Leseprobe - Die Midgard-Saga - Svartálfaheimr
Aus Prolog
(...) Mit schweren Gedanken lag Thea in Toms Armen und beobachtete die Feiernden, die vielzählig um sie herum durch die Halle streiften. Die Personen an den Tischen wechselten seit Stunden kontinuierlich. Krakeelend strömten sie aus den anderen Räumen Walhalls heran, ließen sich nieder, stießen ihre Becher zusammen, bejubelten den Sieg über Asgards Feinde und verschwanden wieder, um neuen Ankömmlingen Platz zu machen. Der Sitz neben Thea erfreute sich großer Beliebtheit. Tisch und Bank klebten vom Met, den die Krieger mit fortschreitender Erheiterung und zunehmend unkontrollierten Bewegungen beim Zuprosten mit ihrer Heldin vergossen. Nicht selten trafen Bier und Met dabei Theas Kleidung. Zu Beginn hatte sie sich noch bemüht, die Spuren des Gelages wegzuwischen, es dann aber aufgegeben. Juli, nach ihrem mutigen Aufeinandertreffen mit Vidar und Thor längst dem Rausch des Alkohols erlegen, wackelte freudetrunken von einem Tisch zum anderen und fiel mehr auf ihre neuen Plätze, als dass sie sich setzte. Irgendwann schwang sie den Arm um Tjorben und entschwand mit ihm in den Raum nebenan. Thea starrte ihrer Freundin nach, ohne zu verfolgen, wohin sie ging. Odins Worte hämmerten in ihrem Kopf. Er hatte ihre Hoffnung, eines Tages Vergebung von Hel zu finden, mit nur einem Satz zerschlagen. Er offerierte ihr einen Aufenthalt in Asgard bei Tom oder eine Rückkehr zu ihrer Familie nach Midgard. Nichts davon ließ sie zuversichtlich in die Zukunft schauen. Der Allvater gab ihr eine Wahl, die, egal wie sie sich entschied, nur Verlust mit sich brachte. Toms Nähe tat ihr gut, sie schenkte ihr Trost und für einen zarten Augenblick ein Gefühl von Unbeschwertheit. Gleichzeitig fühlte sie sich in seinen Armen unendlich bedrückt. Sie war nicht in der Lage, einfach nur Thea zu sein, eine junge Frau, die bei ihrer Familie in Midgard lebte und einen anderen Menschen liebte, wie sie es normal für ihr Alter empfand. Sie war so viel mehr. Sie war Fengur, ein Schmied, der ein erfülltes Leben mit Frau, Kindern und Kindeskindern gelebt hatte - auch über deren Tod in Midgard hinaus. Nichts wünschte sie sich sehnlicher als das Mädchen zu sein, das sie einst war. Doch dafür war es längst zu spät. Zerrissen zwischen drei Welten und Menschen, die sie dort liebte, kreisten ihre Gedanken wild in ihrem Kopf. Falls sie in Asgard bliebe, würde sie Tom gewinnen, aber ihre beiden Familien verlieren. Kehrte sie nach Midgard zurück, musste sie von Tom loslassen. Sie wäre in der Lage, ein Leben mit ihren Eltern, Mats und Juli zu teilen, doch was würde danach folgen? Sie hatte Ragnarök abgewehrt, eines Tages würden sie alle den friedlichen Strohtod sterben. Während Thea in den Kreis der ewigen Wiedergeburt treten würde, so wie es Hel verfügt hatte, wären alle Menschen, die ihr etwas bedeuteten, in die Totenwelt gegangen. Selbst wenn Odin sie wieder in Asgard aufnahm, sie hätte zwei Familien verloren - auch Geirunn. Nie waren Thea die Erinnerungen an ihre einstige Gefährtin so nah und allgegenwärtig wie jetzt, da sie mit ihr zusammen in der Totenwelt gereist war und Jahre gemeinsamer Erlebnisse mit ihr geteilt hatte. Im Nu fühlte sie sich wie eine Ehebrecherin. Hier in Walhall lag sie in Toms Armen, obwohl sie Geirunn erst vor wenigen Stunden das Versprechen gegeben hatte, alles dafür zu tun, um zu ihr zurückzukommen. Jäh wurde ihr Toms Umarmung zu eng. Liebevoll ergriff sie dessen Hand und schlüpfte unter seinem Arm hindurch.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er.
Thea nickte. „Ja“, log sie. „Ich will mir nur die Beine vertreten.“
Ein Krieger prostete Tom zu und lachte. „Bei einem Menschen muss der Met wieder raus!“
„Genau“, stimmte Thea zu, froh darum, dass der Mann die passende Ausrede für sie aufgezeigt hatte.
„Du findest mich hier“, sagte Tom rasch.
„Leider“, wollte Thea antworten, stattdessen nickte sie und erwiderte: „Ich weiß.“ Sie lächelte ihm zu und schob sich an den Feiernden vorbei in den nächsten Raum. Ihre Fylgja folgte ihr, ebenso wie das erfreute Grölen unzähliger Kehlen, sobald Thea entdeckt wurde. Begeisterte Einherjer ließen sie langsamer vorankommen, als es ihr lieb war, dabei wünschte sie sich in diesem Moment nichts mehr, als einen Platz für sich und ihre sich überschlagenden Gedanken zu finden. Für ihr Dilemma musste es eine Lösung geben und sie glaubte zu wissen, wo sie diese fand. Scheinbar jeder Krieger wollte ihr auf die Schulter klopfen, selbst diejenigen, von denen sie überzeugt war, dass sie es längst getan hatten. Eine Soldatin fiel ihr um den Hals und lallte ihr ins Ohr, wie unsagbar stolz sie auf ‚Kyndills Trägerin‘ sei, vier weitere Einherjer folgten ihrem Beispiel und Thea kam nur mit Mühe von ihnen los. Als sie sich vor ungewollten Blicken geschützt wähnte, huschte sie nach draußen. Vor Walhalls Toren zeigte sich die Götterburg wie ausgestorben. Wer nicht schlief, schien in der Walstatt zu feiern. Die Fylgja blieb neben ihrem Schützling stehen und sah fragend an ihm hoch. Thea begegnete dem Blick des Folgegeistes und presste entschuldigend die Lippen zusammen. Sie hatte eine Idee, doch diese würde niemandem gefallen.
„Djarfur, bist du da?“, schickte sie ihrem Begleiter einen Gedanken.
Das Pferd antwortete mit offenem Staunen: „Ja, meine Heldin. Was ist passiert?“
Selbst in der Sprache des Geistes wagte Thea es kaum auszusprechen. Sie flüsterte ihre Worte nur: „Ich brauche dich.“
„Was ist geschehen? Wo bist du?“
Thea sah sich um. Die Stimmen der Einherjer drangen bis zu ihr auf den Platz hinaus. „Vor den Toren Walhalls.“
Sie hob den Blick in das Meer der Sterne, die wie Milliarden kleiner Warnsignale über ihrem Kopf funkelten. Sie versuchte ihr pochendes Herz zu ignorieren, ruhig zu atmen und rieb sich gleichzeitig die feuchten Hände.
Leichtfüßig und beinahe geräuschlos setzte Djarfur neben ihr auf. Liebevoll stieß er sie mit der Stirn an. Für einen Moment verweilte er in Theas Liebkosung, ehe er leise schnaubte.
„Was ist geschehen, meine Heldin? Du bist traurig.“
„Odin sagt, ich könne bei Tom in Asgard bleiben“, erklärte sie.
Das Pferd wieherte fröhlich. „Wie wunderbar! Dann werden wir ebenfalls zusammenbleiben.“
Thea presste die Stirn an die des Tieres. Tränen tropften auf sein dunkles Fell, während sie nach Worten suchte.
Djarfur schnaubte leise. „Es scheint dich nicht zu erfreuen.“
„Ich würde meine Familie nie wiedersehen.“
Erneut schnaubte der Rappe. „Irgendetwas sagt mir, dass du nicht von deinen Eltern in Midgard sprichst.“
Thea schüttelte den Kopf.
„Was ist geschehen? Odin wollte sich doch für dich bei der Totengöttin einsetzen.“
„Er glaubt nicht, dass sie sich erweichen lässt, genauso wenig wie sie seiner Bitte nachkam, Balder gehen zu lassen.“
„Ich verstehe. Aber wie kann ich dir helfen. Ich bin nur ein Pferd und ein schlechter Ratgeber. Was sagt Wal-Freya dazu?“
„Sie ist damit einverstanden.“
Erneut schnaubte Djarfur. Es klang wie ein langes Seufzen. „Du aber nicht.“
„Ich habe Geirunn versprochen zurückzukommen.“
„Seine Versprechen muss man halten. Aber was hast du vor? Willst du dich ein weiteres Mal in die Totenwelt einschleichen? Bin ich deshalb hier? Du wirst dort keine Ruhe finden, wenn Hel es herausfindet.“
Thea schüttelte den Kopf. „Nein, aus diesem Grund habe ich dich nicht gerufen ...“ Sie holte Luft und sammelte all ihren Mut, ehe sie die Frage stellte: „Kannst du mich zu Loki bringen?“
Hastig trat Djarfur zurück. Mit aufgerissenen Augen sah er seine Heldin an und schnaubte abfällig. „Zu ... Loki?“
Thea hob beschwichtigend die Hände. „Er ist der Einzige, der mir jetzt noch helfen kann.“
„Wie sollte er? Er liegt bis zum Weltenende angebunden auf den Felsen.“ Der Rappe sah kurz zu Walhalls Toren und mit einem nie gekannten Gesichtsausdruck blanken Entsetzens zurück zu Thea. „Nein! Daran darfst du nicht einmal denken!“
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