Leseprobe - Die Midgard-Saga - Niflheim
aus Kapitel 7
(...) Verlassen reihten sich die Baumriesen aneinander, kein Geräusch außer dem Knirschen ihrer Tritte und dem Niederrieseln von kleinen Schneewölkchen, die sich hier und da von den Ästen lösten, war zu vernehmen. Kein Getier rührte sich, nicht einmal ein Vogelschrei drang durch die eisige Winterlandschaft. Anfangs murrte Juli noch in die Stille hinein, doch die Anstrengung des Weges ließ ihr Meckern bald verklingen. Sie wanderten mehrere Stunden durch den Wald, bis Thor die rechte Hand hob und die Gruppe hinter sich zum Stehen brachte.
Wal-Freya stellte sich neben Thor. Ihre Frage hallte in der Stille wie ein Donnerschlag: „Was ist?“
Thor streckte den Arm aus und deutete über eine Lichtung. Entlang der sie umgebenden Bäume zeichnete sich eine Vertiefung im Schnee ab. Thor setzte ein paar Schritte vor, schob den Schnee mit dem Fuß zusammen und legte eine blanke Eisfläche frei.
„Was meinst du?“, rief er in Wal-Freyas Richtung.
„So gut wie jeder Brunnen“, nickte Wal-Freya. Sie ging an den Rand des gefrorenen Sees und zeichnete ein paar Runen in den Schnee auf dem Eis. Mit angewinkelten Armen drehte sie dann die Handflächen nach oben und senkte den Kopf. Thea mochte ihren Augen nicht glauben. Kaum begann Wal-Freya einige Worte zu murmeln, leuchteten die eingezeichneten Runen in rot, blau und gelb auf, bis sie glitzerten wie gehämmertes Silber. Thea spürte eine aufbrennende Wärme auf ihrer Brust. Ihre Hand fuhr unwillkürlich zum Mondanhänger um ihren Hals. Gerade als der Schmerz unerträglich wurde, flammte das Silber in einem gleißenden Licht auf. Ein Schrei gellte durch den Wald, als Thor jäh den Boden unter den Füßen verlor und mit einem Platschen im See landete. Er tauchte rudernd aus dem See auf, riss sich den Helm vom Kopf und schüttelte vor Wut aufbrüllend seine tropfnassen Haare.
„Verdammt Freya!“
Die Walküre erhob sich. Mit den Augen rollend griff sie sich an den Kopf. „Um Odins Willen, Thor! Was bleibst du auch auf dem See stehen?“
Während Thor mit langen Schritten ans Ufer watete, sprach er die übelsten Verwünschungen aus. Thea traute ihren Ohren kaum. Ihre Augen wurden mit jedem Schimpfwort größer. Als ihr Blick den von Juli traf, sah sie, dass es ihrer Freundin gleich erging. Erst als ihn Wal-Freya rüde ermahnte, verstummte Thor. Murrend setzte er seinen Helm wieder auf, stellte sich ans Ufer und verschränkte die Arme vor der Brust. Wasser tropfte von den Haaren, die in nassen Strähnen aus dem Helm hingen. Auch aus seinem Bart kullerten Wassertröpfchen zur Erde. In der Kälte blieben sie nicht lange flüssig. Rasch wuchsen sie zu Eiszapfen an Mund und Kinn. Thea vergrub die Lippen in ihrer Faust und drehte sich glucksend ab. Schon hatte sie Juli angesteckt, die weniger Beherrschung zeigte. Wal-Freya fiel mit ein. Tanngnjostr und Tanngrisnir blökten amüsiert und Bygul und Trjegul sprangen zustimmend um Wal-Freyas Beine. Schließlich glätteten sich auch Thors Zornesfalten und er lachte mit seinen Gefährten. Ihre Fröhlichkeit stieg über die Baumwipfel auf und verlor sich in der Einsamkeit des Himmels. Erst als Wal-Freya sich kichernd die Tränen aus dem Gesicht wischte und an den Ernst ihrer Mission erinnerte, beruhigten sie sich langsam, aber hier und da gluckste noch ein Lachen hervor. Als Thor jedoch auf den See zeigte und verkündete, dass sie nun alle dran seien dort reinzugehen, verstummte das Lachen mit einem Schlag.
„Wie meinst du das, wir sind dran?“, fragte Juli.
„Glaubst du Wal-Freya hat den See zum Spaß aufgetaut?“
Nun war es Juli, die die Arme verschränkte und Verwünschungen aussprach: „Dir ist wohl das Gehirn eingefroren. Niemals werde ich da reingehen!“
„Der Weg zu Frau Holle führt nur über ein Gewässer“, erklärte Wal-Freya ungewöhnlich nachsichtig.
„Und was macht er dann noch hier? Er war doch schon drin“, rief Juli heiser und deutete auf Thor.
„Ich habe auf euch gewartet!“, empörte sich Thor.
Allein bei dem Gedanken an das Bad, fröstelte Thea. Wie eine dunkle Bedrohung lag das Gewässer in der Schneelandschaft. Nur die Sterne und ein Schimmer des Nordlichts spiegelten sich schwach darin. Um das Wasser hatten sich bereits dicke Eiskrusten gebildet. Kein Dampf, nicht einmal das winzigste Tröpfchen stieg von dem See auf. Wal-Freya hatte wohl nur das Eis zum schmelzen gebracht, der See erwartete sie mit unerbittlicher Kälte.
„Im Leben setze ich dort keinen Fuß rein!“, sagte Juli endgültig.
Bissig schlug Wal-Freya vor: „Alternativ kannst du hier am See alleine warten.“
„Wer garantiert uns denn, dass es klappt?“, entgegnete Juli unbeugsam.
Thor gab einen grunzenden Laut von sich, zwinkerte Juli zu und schon drang Plätschern von Wasser durch die Stille, als er in den See hineinwatete. In einiger Entfernung drehte er sich um und tauchte unter. Theas Blick jagte über die Oberfläche. Die kleinen Kreise, die beim Eintauchen um Thor entstanden waren, breiteten sich weit über die sich beruhigende Oberfläche aus. Schließlich verebbten sie am Rand des Sees. Thor blieb verschwunden. Tanngnjostr und Tanngrisnir blökten unruhig und sprangen ihrem Herrn schließlich panisch nach. Auch sie blieben unter der sich glättenden Wasseroberfläche verschwunden.
„Seht ihr, alles in Ordnung“, sagte Wal-Freya. Sie raffte ihren Umhang über dem rechten Arm und lief nun ebenfalls in den See hinein. Thea und Juli konnten nur hilflos zusehen, wie sich das Schauspiel ein weiteres Mal wiederholte, Wal-Freya folgten Bygul und Trjegul, dann war es ruhig.
Hilflos blickten Thea und Juli über den See. Ein feiner Wind wehte eisig um ihre Gesichter und ließ ihre Wangen erröten. Die Stille war erdrückend und nur hier und da von einzelnen Bewegungen der beiden Freundinnen unterbrochen. Atemlos standen sie vor der Szenerie, keines klaren Gedanken fähig, bis sich Thea ein Herz fasste und dem Weg der beiden Götter folgte. Juli versuchte noch nach ihr zu greifen und sie zurückzuhalten, doch Thea war bereits aus ihrem Wirkungskreis entschwunden. Kalte Stiche packten ihre Beine und ließen sie nach Luft schnappen. Bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, lief sie weiter.
„Thea! Lass den Scheiß, du holst dir noch den Tod!“, rief Juli ihr nach.
„Wir können nicht allein hier zurückbleiben, so sterben wir früher oder später auch“, erwiderte Thea und ging tapfer weiter. Das Wasser erreichte ihre Hüften. Thea glaubte von einer eisernen Hand umklammert zu werden. Keuchend presste sie Augen und Lippen zusammen und lief vorwärts.
„Thea! Du Dickschädel!“, fluchte Juli.
Thea hörte hinter sich ein Platschen, gefolgt von einem erstickten Schrei. Als sie sich umdrehte sah sie Juli aufstöhnend im Wasser auf und ab wippen. Es folgten Verwünschungen und Flüche, aber einmal den Weg gegangen, biss sich Juli zu Thea durch. Diese nahm all ihren letzten Mut zusammen. Sie holte tief Luft, dann sprang sie vom Boden ab, zog die Füße ein und ließ sich ganz von dem Wasser bedecken.
Im Schreck des ersten Augenblicks versuchte Thea noch zurück an die Oberfläche zu gelangen, aber es war zu spät. Ein Strudel umschloss sie, griff unnachgiebig nach ihren Beinen und zog sie wirbelnd in die Tiefe.
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