Leseprobe - Die Midgard-Saga - Midgard
Kapitel 1
Freyr drehte gelangweilt den Becher in der Hand. Gullinbursti, sein Eber, saß nur wenige Meter von ihm entfernt auf dem Boden. Sichtbar für alle teilte das Tier die Laune seines Besitzers. Die kleinen Augen waren zu Schlitzen verengt, seine Stirn in Falten gelegt. Unentwegt betrachtete er die Versammelten, die sich fröhlich an den Tischen scharten. Ab und zu grunzte er mürrisch. Thea versuchte beflissen, ihn zu ignorieren, ebenso den Fruchtbarkeitsgott, dessen Augen sie von Zeit zu Zeit streiften. Ihr war nicht klar, was Wal-Freyas Bruder damit bezweckte, ausgerechnet sie anzustarren. Peinlich berührt wendete sie den Blick ab. Es war nicht ihr Plan gewesen, vor der Abreise nach Wanaheim in Sessrumnir einzukehren – sie waren der Idee seiner Schwester gefolgt. Auch Thea verwunderte die Verzögerung, denn gegessen und gefeiert hatten sie in den letzten Tagen mehr als genug. Die Pferde warteten bereits auf der Terrasse der Halle, die Folkwang und Sessrumnir verband. Djarfur, vom Reisefieber gepackt, beschwerte sich vehement. Hier und da schickte er Thea einen Gedanken, in dem er sie aufforderte, sich zu beeilen. Zu Beginn hatte sie Wal-Freya sein Drängen mitgeteilt, aber diese bestand auf den Aufenthalt in der Halle. So saßen sie seit mehreren Stunden beisammen, ließen sich von den Walküren einschenken und feierten das gesellige Zusammenkommen. Alle drei Baba Jagas waren in Sessrumnir erschienen, ebenso Smule. Sogar Ekfor, der Riese, der Thea in Niflheim das Leben gerettet hatte und deshalb von den Asen Unterschlupf in Asgard erhielt, saß mit ihnen am Tisch. Seit geraumer Zeit waren ihm Thea und Juli nicht mehr begegnet. Umso größer feierten sie die Wiedersehensfreude. Eine Person, die in den Saal gestürzt war, kaum dass Thea ihn betreten hatte, war Tjorben Elricson – ein alter Freund aus ihrem früheren Leben. Er hatte Thea aufs Herzlichste begrüßt und sich zu ihnen gesellt. Mit jedem geleerten Krug Bier wurde er vergnügter. Während er einen Schwank nach dem nächsten aus seiner Zeit mit Thea auskramte, hieb er ihr ein ums andere Mal kräftig auf den Rücken. Einmal fuhr sie deshalb erschrocken unter ihren Umhang, da er ihr beinahe Jekuthiels Lampe aus dem Gürtel geschlagen hatte. Seit ihrem Abenteuer in Muspelheim trug sie das Kleinod des Wüstendämons bei sich und versteckte es sorgsam vor den Blicken der anderen. Niemand ahnte, dass sie die Lampe in Muspelheim an sich genommen hatte. Zunächst war es ein Reflex gewesen, inzwischen erinnerte sie sich aber selbst nicht daran, warum sie es getan hatte und es vor ihren Freunden geheim hielt. Wahrscheinlich weil sie genau wusste, dass die Asen sie ihr nicht lassen würden. Sie hatte das Gefühl, etwas unermesslich Wertvolles zu besitzen – einen Schatz, der ihr stets einen Vorteil gegenüber Jekuthiel verschaffte. Er hatte ihr angedroht, sie eines Tages aufzusuchen, sobald sie nicht mehr unter dem Schutz der Götter stünde. Sie fürchtete den Tag, an dem er seine Warnung wahrmachte. Wenn Tjorben es nicht verdarb, würde ihr Geheimnis gewahrt bleiben und sie hätte einen wirksamen Schutz gegen den Flaschengeist. Doch als läge er es nur darauf an, sie zu enttarnen, hieb Tjorben ihr abermals ins Kreuz und tischte die nächste Geschichte von Fengur auf. Tom und Juli amüsierte es sichtlich, Thea hingegen waren die Erzählungen zunehmend unangenehm. Allzu oft kam der Einherjer dabei auf Geirunn zu sprechen. Falls es Tom betroffen stimmte, so verbarg er es geschickt. Anders als Tjorben, der irgendwann irritiert guckte, als Tom Thea in den Arm nahm und sein Kinn auf ihre Schulter stützte, um dessen Ausführungen zu folgen. Ihr alter Freund betrachtete Thea mit hochgezogenen Augenbrauen und brüllte hörbar für den ganzen Saal: „Dich in den Armen eines Jungen zu finden, ist ein Anblick, an den ich mich nur schwer gewöhnen kann!“
Nun war es Thea, die hilfesuchend Hilfe suchend zu Freyr sah.
Der Fruchtbarkeitsgott stellte den Becher ab und runzelte die Stirn. Ebenso laut wie zuvor Tjorben rief er seiner Schwester zu: „Lass uns aufbrechen! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du schindest Zeit!“
Gefjon verzog vorwurfsvoll den Mund und tauschte einen Blick mit der obersten Walküre.
Thea vermutete, dass das Zusammensein Teil des Abschieds war, den Wal-Freya von ihr nahm. Skuld hatte durchblicken lassen, dass es nur noch wenige Tage dauerte, bis sie zurück nach Midgard ging. Ihre Fahrt nach Wanaheim würde die letzte Reise sein, die sie und Wal-Freya in Odins Auftrag ausführten. Thea teilte die Gefühle der obersten Walküre. Sie waren einen langen Weg miteinander gegangen. Auch ihr fiel der Abschied schwer, dennoch war es Thea ein Rätsel, wieso Wal-Freya das Unvermeidliche derart hinauszögerte. Sie war eine Göttin, sie würde sie jederzeit besuchen können. Bei aller Verbundenheit, die auch Thea zur Walküre fühlte, zog es sie nach Hause zu ihrer Familie.
„In wenigen Tagen findet das Fest zur Leinernte bei Ägir statt. Vielleicht sollten wir unsere Freunde aus Midgard noch dorthin mitnehmen“, erwiderte Wal-Freya.
„Du scherzt! Welchen Nutzen würde das bringen?“, entgegnete Freyr.
„Wir haben sie so vielen Gefahren ausgesetzt. Bevor sie gehen, könnten wir unsere Dankbarkeit zeigen.“
Alle drei Baba Jagas verschränkten gleichzeitig die Arme. Thea beobachtete es aus den Augenwinkeln. Sie war ebenso erstaunt über den Vorschlag. „Das ist wirklich nicht nötig“, antwortete sie. Flehend sah sie Wal-Freya an, die daraufhin seufzte und sich mit einem Nicken erhob.
„Dann los!“
Fragend musterte Gullinbursti die Anwesenden.
Freyr wedelte mit der Hand und scheuchte den Eber auf. „Du hast richtig gehört. Wir reisen endlich ab.“ Er stand auf und schloss sich dem Tier an, das schon Richtung Ausgang lief. Gullinbursti stieß das Tor auf und stapfte zufrieden an Freyr vorbei nach draußen. Thea erhaschte einen kurzen Blick auf die Pferde, ehe sich die Pforte hinter Freyr wieder schloss.
„Was? Ihr wollt schon gehen? Ihr seid doch gerade erst gekommen“, protestierte Tjorben. Er rülpste und klopfte sich entschuldigend auf die Brust.
Smule wackelte mit den Füßen. „Sehr traurig.“
Ekfor, der im Gegensatz zu dem Lavagnom zusammengekauert auf seinem Stuhl hockte, schob diesen ein Stück zurück. „Es wird Zeit“, sagte er.
„Eigentlich wären wir schon lange auf dem Weg“, stimmte Thea zu.
Der Einherjer stellte den Becher ab und zog eine Grimasse. „Nun, dann werde ich wohl warten müssen. Früher oder später kommt ihr wieder, dann können wir tagein, tagaus zusammensitzen und miteinander trinken.“ Wiederholt schlug er Thea auf den Rücken. „Nicht wahr, alter Freund?“
Die junge Baba Jaga lächelte. „Ich denke nicht, dass das ihren Plänen entspricht.“
Juli hob die Augenbrauen. „Worauf willst du hinaus, Tjorben?“ Sie runzelte die Stirn und wedelte mit dem Finger, als sie es verstanden hatte. „Du sprichst von der Zeit nach unserem Ableben! Ich stimme Baba Jaga absolut zu. Das ist keine Option für uns. Also für mich jedenfalls nicht.“ Sie lachte abwehrend.
„Ihr werdet wohl zusehen und einen Heldentod sterben“, empörte sich Tjorben.
Zum ersten Mal, seit sie sich in der Halle niedergelassen hatten, hob die Fylgja den Kopf.
Thea lächelte milde. Nun war sie es, die ihren einstigen Freund an der Schulter berührte. „Unsere Familien sind nicht hier. Unser Platz ist in Hel.“
Die Baba Jagas nickten einvernehmlich. „Sie haben schon genug Schlachten für die Götter geschlagen.“
Tjorben deutete auf Tom, der erschrocken beide Hände hob. „Ich werde mich hüten! So schön das hier auch sein mag, ich ziehe ein Leben nach dem Tod in Hel vor.“
„Bei Thea“, erkannte Tjorben.
Tom nickte. „So ist es.“
Seufzend schüttelte der Einherjer den Kopf. „Das mag bis vor einigen Wochen noch euer Platz gewesen sein, aber jetzt nicht mehr. Sie wird euch nicht aufnehmen.“
Thea sah zu Wal-Freya, die gerade ihren Schwertgurt um die Hüften legte. Sie blickte von einem zum anderen. „Wir werden alles dafür tun, dass Hel die Verbannung aufhebt“, sagte sie, während sie die Schnalle schloss.
„Aber ...“, setzte Tjorben an und winkte ab.
Wal-Freya rückte den Umhang auf ihren Schultern zurecht. „Danke, dass du darüber nicht diskutieren willst“, erwiderte sie.
„Als würde es einen Nutzen bringen, mit einer Frau zu diskutieren.“ Er lachte wieder und hieb Thea auf den Oberarm. „Mit ihr ist das wahrscheinlich ebenso zwecklos. Es spielt sicher keine Rolle, dass sie einst ein Mann war.“
„Sehr witzig, Tjorben!“, knurrte Thea.
Er lachte lauter und nahm einen Schluck aus seinem Becher.
Wal-Freya lief an ihnen vorbei und pochte auf die Tischplatte. „Löse dich von deinem Freund, Thea! Djarfur wartet.“
„Er ist nicht mein Freund“, konterte Thea. „Das hat sich gerade erledigt.“
Smule sah sie überrascht an. Tjorben hingegen lachte aus voller Kehle. Als Thea aufstand, erhob er sich ebenfalls und erstickte sie in einer Umarmung. Er entließ sie erst, nachdem er ihr kräftig auf den Rücken geklopft hatte. „Wir sehen uns bald wieder, alter Freund.“
Thea lächelte. „Das werden wir. Bevor ich zurückgehe, komme ich noch einmal vorbei.“ Sie sah fragend zu Wal-Freya, um sich Gewissheit darüber zu verschaffen, ob sie ihr Versprechen auch würde einlösen können. Diese presste die Lippen zusammen und nickte stumm. Im gleichen Atemzug schreckten alle Anwesenden auf, als ein ohrenbetäubendes Poltern die Halle erschütterte.
Mit seinem dicken Schädel war Gullinbursti gegen das Tor gestoßen, das weit aufschwang und den Blick auf die Terrasse freigab. Er sah zurück und grunzte bestätigend. Djarfur hob den Kopf und äugte in die Halle hinein.
„Kommt ihr endlich?“, tönte er in Theas Gedanken.
Freyr spähte hinter seinem Eber in den Raum. „Wo bleibt ihr?“
„Wir sind auf dem Weg“, erwiderte Wal-Freya. An Thea und die anderen gewandt befahl sie: „Sagt auf Wiedersehen!“ (...)
|