Leseprobe - Die Midgard-Saga - Hel

aus Kapitel 4

(...) Mit einem Schlag, der Thea die Luft raubte, traf Skidbladnir auf den Gjöll. Sie machte sich auf einen Höllentrip gefasst, erwartete sie doch, dass das Schiff augenblicklich von den Wellen erfasst und mitgerissen wurde. Aber nichts dergleichen geschah. Skidbladnir lag ruhig auf dem Wasser. Verdutzt sahen sich die Freunde an, rappelten sich auf und traten an den Bug heran. Das Loch in der Höhlendecke, das sie ausgespuckt hatte, verschwand rasch aus ihrem Blickfeld. Die Wellen peitschten gegen die Schiffswand, die aufschäumende Gischt spritze in ihre Gesichter. Um sie herum wütete der Gjöll, doch Skidbladnir fuhr auf dem Fluss, als würde es auf seichten Gewässern dahingleiten. So weit das Auge durch den feuchten Dunst reichte, wölbte sich eine Höhlenwand über ihnen.

„Dieses Schiff ist so irre!“, frohlockte Juli. „Auf jeder anderen Nussschale würden wir jetzt durchgeschüttelt werden.“

Nickend erwiderte Thea: „Wal-Freya hatte Recht, als sie meinte, dass es nicht kentern wird.“

Tom richtete seinen Blick nach vorn. „Nur wohin wird es fahren?“

Juli klatsche sich mit der Hand an die Stirn. „Oh Mann! Das hätte ich fast vergessen. Das muss ich ihm doch sagen!“ Mit weiten Schritten stapfte sie ans Heck. Dort setzte sie sich ans Ruder, nahm es in die Hand und bewegte es einmal hin und her. Zurück bei Tom und Thea lächelte sie.

„Das sah sehr professionell aus“, lachte Tom.

„Allerdings“, pflichtete Thea bei.

Sie schickten ihre Blicke über den Bug und versuchten etwas durch den Nebelschleier und die aufbrausende Gischt zu erkennen, doch im Zwielicht der Höhle konnten sie nur wenige Meter weit sehen.

„In der Zeit, in der wir nutzlos warten, kann ich endlich auf die Suche nach meinem Koffer gehen“, verkündete Juli leichthin.

„Deinen Koffer?“, staunte Tom.

„Ja! Meinen Trolli! Ich habe ihn bei unserer ersten Reise auf dem Schiff vergessen“, erklärte Juli, während sie sich vor einer Ruderbank niederkniete und darunter tastete.

„War es nicht vielmehr so, dass du ihn gegen den Phönixstein eingetauscht hast?“, erinnerte Thea.

„Naja, so stimmt das auch nicht“, rief Juli zurück und lugte unter die nächste Ruderbank. „Thor sagte, es sei ein guter Tausch. Weißt du noch, wie lange ich auf ein neues Handy warten musste? Meine Eltern haben mir so ein doofes Tastending gekauft und das nur, damit sie etwas hatten, um mich zu überwachen.“

„Ich erinnere mich“, nickte Thea. „Auch daran, dass du deinem Vater so unermüdlich in den Ohren gelegen hast, bis das teuerste Smartphone-Model auf deinem Geburtstagstisch lag.“

Juli sah grinsend hinter der dritten Ruderbank auf. „Ja, aber das hat ganze sieben Wochen gedauert! Ah! Da ist er ja!“ Mit einer gönnerhaften Geste zog sie den Trolli hervor.

Tom löste sich vom Bug und gesellte sich zu ihr. „Ich fasse es nicht, dass du einen Koffer mit auf eure erste Reise genommen hast!“

Thea, noch immer am Bug stehend, kicherte in Erinnerung daran. „Du hättest mal Wal-Freyas Gesicht sehen sollen, als sie den angeschleppt hat.“

Lachend legte Tom die Hand an den Hinterkopf. „Das kann ich mir gut vorstellen!“

Feierlich öffnete Juli den Reißverschluss. „Ihr werdet noch froh darum sein!“ Sie winkte mit einer Taschenlampe. „Siehst du! Wenn das nicht ein praktisches Utensil ist, hier in der Dunkelheit!“

„Schon vergessen, dass Thea eine Fackel dabei hat?“, neckte Tom sie.

„Jaha, die kann aber nicht das hier!“ Juli schaltete die Taschenlampe ein und ließ den Lichtkegel auf der Höhlenwand über ihnen entlangfahren.

„Mach das Ding aus“, zischte Thea sofort.

„Ist ja gut!“ Das Licht verlosch.

Mit dem Zeigefinger fischte Tom eine Skibrille aus dem Koffer. Beinahe vorwurfsvoll wedelte er damit vor Julis Nase.

„Kein Ton darüber!“, mahnte Juli grinsend.

Tom erwiderte die Geste. „Du bist die verrückteste Person, die ich kenne.“ Er wandte sich ab und lief zurück zum Bug, während Juli weiter zwischen ihren Sachen nach Brauchbarem wühlte. Schmunzelnd stieß er Thea an, legte die Arme auf die Reling und faltete die Hände. „Du und deine bekloppte Freundin! Ich bin so froh, dass ich euch kennengelernt habe. Siehst du schon irgendwas?“, fragte er.

„Nein“, antwortete Thea. Sie lächelte, obwohl ihr nicht danach zumute war. Ingvars Worte schossen ihr durch den Kopf. Erneut zweifelte sie an der Richtigkeit ihres Vorhabens, aber was auch immer geschah, aufhalten konnten sie es ohnehin nicht mehr. Thea hoffte bloß, dass die Götter weise entschieden hatten und sie nicht Teil von etwas wurde, das Schlimmeres auslöste als Ragnarök. Darüber wollte sie jedoch mit Tom nicht sprechen. Gerade holte sie Luft, da ging ein Ruck durchs Schiff. Thea hob den Blick über die Reling. Die Wellen schlugen beständig gegen das Schiff, doch nur an den Seiten. Der Bug war an Land gestoßen. Ohne die aufschäumende Gischt vor ihren Augen, bildete sich die Landschaft klar und deutlich vor ihnen ab. Hohe Bäume ragten als dunkle Schatten im Zwielicht auf. Ihre Blätter waren dunkelgrün, beinahe schwarz. Trotzdem badeten sie in einem schimmernden Licht, dessen Quelle Thea nicht ausmachen konnte. Weit und breit erstreckte sich die Höhlenwand über ihnen, kein Sonnenstrahl, nicht einmal das Mondlicht reichte in diese Untiefe. Der feine Nebel waberte auch hier über dem Landstrich.

„Wald?“, staunte Tom.

Thea nickte ebenso verwundert.

„Vieles hätte ich in Hel vermutet, aber nicht das“, konkretisierte Tom seine Verwunderung.

Thea blickte sich zu Juli um, die unermüdlich in ihrem Koffer wühlte und hier und da etwas in ihren Taschen verstaute. Sie löste sich vom Bug und kniete sich ebenfalls an eine der Ruderbänke. „Hast du mal nach den Vorräten geschaut?“, fragte sie an Juli gewandt.

„Das hätte ich im Anschluss getan. Was denkst du von mir?“, erwiderte sie und lächelte verschmitzt.

Thea zog die Kiste hervor, an der sie kniete. Sie fand die Feuerschale und ein wenig Brennholz darin und schob den hölzernen Behälter wieder zurück. Unter der nächsten Ruderbank wurde sie fündig. Aus einer Ansammlung von Wasserschläuchen nahm sie einen heraus und tauschte ihn gegen den halbvollen an ihrem Gürtel. Einen warf sie Tom zu, der gerade achtern kam, um sich der Suche anzuschließen. Juli folgte Theas Beispiel und kramte in einer anderen Kiste nach den Vorräten.

„Schau mal! Den hatte ich schon ganz vergessen“, rief sie und hielt einen Umhang vor sich.

„Mit dem war irgendwas“, raunte Thea. „Pack ihn wieder weg!“

Tom betastete den Stoff. „Was soll mit dem sein? Tausch ihn mit deinem. Der ist doch kaputt.“

„Das ist nur ein Riss. Steck das Ding weg, Juli. Ich weiß nicht mehr genau, was mit diesem Umhang ist, aber ich kann mich gut daran erinnern, dass Wal-Freya sagte, man solle ihn auf keinen Fall schließen.“

„Na, wenn du meinst“, brummte Juli. Widerstrebend knüllte sie das Kleidungsstück zusammen und stopfte es zurück unter die Ruderbank.

„Hier!“, rief Thea. In einer weiteren Kiste fand sie zwei Dutzend Stoffbeutel, die mit Speisen bestückt waren. Sie füllten ihre Quersäcke auf, schoben die hölzerne Box wieder unter die Ruderbank und verließen das Schiff. Thea sprang als erste von Bord. Ihre Befürchtung, dass sich augenblicklich eine Armee von Toten auf sie stürzte, blieb unerfüllt. Die Umgebung begrüßte sie friedlich, nur das Rauschen des Gjöll erfüllte die Luft. Tom schien mit der gleichen Beunruhigung wie Thea von Bord gegangen zu sein, denn er stellte sich mit gezückten Klingen neben ihr auf und spähte mit verhärteten Gesichtszügen in den Wald. Ein Aufschrei Julis ließ beide herumfahren. Bereits die Hand am Schwertknauf seufzte Thea, als sie ihre Freundin zeternd aus einer Woge stapfen sah.

„Musste der ausgerechnet jetzt da Wasser hinspülen“, knurrte Juli und meinte damit den Gjöll. Fluchend schüttelte sie die Beine aus und trat vor Skidbladnir. Thea richtete ihren Blick zur Höhlendecke. Durch den Nebelschleier hindurch drang nun auch noch feiner Regen, der aus den Felsen über ihnen tropfte. Neben Julis Füßen würden bald auch ihre Kleider durchnässt sein.

Als wäre das Schiff eine Feder drückte sie den Bug hinab, hob es an gleicher Stelle an und presste die Planken gegeneinander. Augenblicklich rollte das Segel ein, legte sich der Mast nieder und Juli faltete das Pergament zusammen. Stolz packte sie es zurück unter ihr Kettenhemd.

„Siehst du, mit den richtigen Gegenständen kann ich auch ein bisschen zaubern“, gluckste sie. Mit einem freundschaftlichen Schlag auf Theas Arm blieb sie neben ihrer Freundin stehen und richtete den Blick auf den Wald. „Dann schauen wir mal, was die Götter uns diesmal für Überraschungen bereithalten.“

Thea nickte langsam. Ein letztes Mal blickte sie sich um, dann lief sie, begleitet von Juli und Tom, voraus.

Hel

 

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